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Außerordentliche Rechtsmittel im türkischen Strafverfahrensrecht

Gottfried PLAGEMANN

1. Einführung

Im türkischen Strafverfahren gibt es neben den ordentlichen Rechtsmitteln1 (Beschwerde, Berufung und Revision) weitere außerordentliche Rechtsmittel, deren Notwendigkeit wie auch deren Voraussetzungen und Rechtswirkungen in der türkischen Lehre umstritten sind. Mit der Einführung des Rechtsmittels der Berufung als ordentliches Rechtsmittel und der außerordentlichen Situation der letzten Jahre auch und gerade in der türkischen Justiz stellt sich die Frage nach der Bedeutung dieser außerordentlichen Rechtsmittel wieder neu. Im Folgenden wird ein kurzer Überblick über die Rechtsmittel gegeben und insbesondere an Hand der außerordentlichen Beschwerde gegen Entscheidungen des Kassationshofs und der Regionalgerichte der Zweck dieser Rechtsmittel diskutiert und so ihre Vereinbarkeit mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens und der Rechtssicherheit thematisiert werden.

Das im Mai 2016 ratifizierte und am 1.8.2016 in der Türkei in Kraft getretene2 Protokoll Nr. 7 zur Europäischen Menschenrechtskonvention garantiert in Art. 2 ein Rechtsmittel gegen strafrechtliche Verurteilungen durch den Rechtsweg zu einem übergeordneten Gericht. In der Türkei wurde dies für die Verurteilungen vor den erstinstanzlichen Strafgerichten der ordentlichen Gerichtsbarkeit bis 2016 durch die Revision zum Kassationshof (Yargıtay) und ab 2016 auch durch die neu eingeführte Berufungsinstanz gewährleistet. Die Einführung der Berufung soll eine Entlastung des Kassationshofs und damit zugleich die Vereinheitlichung der Rechtsprechung bewirken3 sowie durch die erheblichen Beschränkungen der Berufung eine Verlängerung der Verfahrensdauer vermeiden. Dennoch gibt auch diese eingeschränkte Form der neuen Berufung immerhin die Möglichkeit einer Überprüfung und Neudurchführung der Tatsachenfeststellung durch ein übergeordnetes Gericht.

Der Ausbau dieser Garantie eines Rechtsmittels gegen gerichtliche Entscheidungen steht immer im Konflikt mit der Bestandsgarantie einer richterlichen Entscheidung. Die Überprüfung einer gerichtlichen Entscheidung zur Verhinderung von Fehlern bei der Tatsachenfeststellung und der Anwendung des Rechts soll eine soweit wie mögliche Ermittlung der Wahrheit und eine rechtmäßige Rechtsprechung sichern. Sie soll damit dem Schutz der Interessen des Angeklagten und der Gesellschaft dienen.4 Der Vorrang der Rechtmäßigkeit und der Sachverhaltsaufklärung muss aber ab einem bestimmten Punkt der Rechtssicherheit und damit der Sicherung des Rechtsfriedens weichen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit der Rechtskraft eines Urteils der übergeordneten Instanz, die nur noch in ganz beschränkten Ausnahmefällen in Frage gestellt werden darf. Eine solche Ausnahme ist als erstes die Verletzung von Grundrechten durch das Gericht, die vor dem Verfassungsgericht5 oder dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geltend gemacht werden kann. Die zweite allgemein verbreitete Ausnahme von der Geltung der Rechtskraft ist auch in der Türkei das Wiederaufnahmeverfahren, ein außerordentlicher Rechtsweg, mit dem rechtskräftige Urteile der Strafgerichte aufgehoben werden können.6 Hinzu kommen in der Türkei weitere außerordentliche Rechtsmittel.

Der Begriff der außerordentlichen Rechtsmittel war in der alten türkischen Strafprozessordnung (tStPO), die 2005 außer Kraft trat, gesetzlich nicht definiert. Er ist auch in der Lehre umstritten. Die herrschende Meinung wie die Rechtsprechung gehen davon aus, dass außerordentliche Rechtsmittel alle Rechtsmittel sind, welche gegen rechtskräftige Gerichtsentscheidungen eingelegt werden können. Hierauf wird im Folgenden, insbesondere in Bezug auf die außerordentliche Beschwerde der Staatsanwaltschaft, noch eingegangen. In der neuen StPO gibt es keine Legaldefinition für die Klassifizierung der Rechtsmittel. Im dritten Teil des sechsten Buchs sind jedoch drei Rechtsmittel unter dem Titel „außerordentliche Rechtsmittel“ (olağanüstü kanun yolları) zusammengefasst. Der folgende Vortrag beschränkt sich auf diese Rechtsmittel: die außerordentliche Beschwerde des Generalstaatsanwalts, den Antrag auf Aufhebung des Urteils zur Wahrung des Rechts und die Wiederaufnahme des Verfahrens. Ein weiteres außerordentliches Rechtsmittel, die Urteilsberichtigung, die nicht unter dem Titel „außerordentliche Rechtsmittel“ in der türkischen StPO aufgeführt wird, wird auch kurz erwähnt werden.

Nicht Gegenstand dieses Artikels sind zwei außerordentliche Rechtsbehelfe, welche zumindest von der herrschenden Meinung und Rechtsprechung nicht als Rechtsmittel betrachtet werden: die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und die Verfassungsbeschwerde.

Die in Art. 40 tStPO geregelte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, welche bei unverschuldeter Versäumnis einer Frist greift, stellt nach Rechtsprechung und Lehre einen außerordentlichen Rechtsbehelf dar, auf den die allgemeinen Regeln über Rechtsmittel anzuwenden sind, soweit dies möglich ist.7 Betrifft die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand die Verurteilung in Abwesenheit des Angeklagten, so wird diese teilweise als Rechtsmittel betrachtet, da sie sich gegen eine Gerichtsentscheidung richtet und die Gewährung zur rückwirkenden Beseitigung des Urteils führt.8

Die Verfassungsbeschwerde wird teilweise als Rechtsschutzmittel sui generis (kendine özgü hak arama yolu) bezeichnet.9 Kritisiert wird in der türkischen Lehre, dass es dazu keine Regelung in der tStPO gibt,10 wie es sie etwa bei Feststellung der Verletzung eines Rechtes aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gibt. Beruht das Urteil auf einer Verletzung eines in der EMRK garantierten Rechts, so stellt dies einen Wiederaufnahmegrund nach Art. 311, Abs. 1 lit. f. tStPO dar. Für die Verfassungsbeschwerde zum türkischen Verfassungsgericht müsse dies neben der Regelung in der Verfassung und dem Gesetz über die Gründung des und das Verfahren vor dem Verfassungsgericht (Verfassungsgerichtsgesetz) auch in der tStPO erfolgen.11

2. Die außerordentliche Beschwerde der Generalstaatsanwaltschaft

Gem. Art. 308 tStPO kann der Generalstaatsanwalt beim Kassationshof gegen Entscheidungen der Strafsenate des Kassationshof außerordentliche Beschwerde einlegen.12 Die Beschwerde zuungunsten des Angeklagten/Verurteilten13 muss der Generalstaatsanwalt binnen 30 Tagen einreichen. Für Beschwerden zugunsten des Angeklagten gibt es keine Frist. Dieses außerordentliche Beschwerderecht wurde 201714 auch der Generalstaatsanwaltschaft beim Regionalgericht gegen rechtskräftige Entscheidungen der Strafkammern der Regionalgerichte eingeräumt, die im Juli 2016 ihre Rechtsprechung aufgenommen haben (Art. 308a).

Da es sich hierbei nicht um ein Beschwerdeverfahren handelt, wie es in den Vorschriften über die Beschwerde (Art. 272-285 tStPO) geregelt ist, benutze ich den auch in der türkischen Lehre benutzten Begriff der „außerordentlichen“ Beschwerde,15 obwohl im Gesetz nur die Rede von Beschwerde (itiraz) ist. Materiell handelt es sich je nach Gericht eher um eine Form der Revision oder der Berufung, denn die Rechtsmittelgerichte entscheiden hier nach den für ihre Instanz vorgesehenen Vorschriften, da eigene Verfahrensvorschriften für diese außerordentliche Beschwerde nahezu nicht existieren. Hinzu kommt, dass Gegenstand dieser Beschwerde nur die abschließenden Entscheidungen der Gerichte sind, während die Beschwerde sich sonst nicht gegen Urteile richten kann.

Für die Beschwerde der Generalstaatsanwaltschaft nach Art. 308, 308a tStPO gibt es im Gesetz zur Frage des Suspensiveffektes sowie der Frage, welche Entscheidungen des Kassationshofs damit angefochten werden können, keine Regelung im Gesetz. Diese Fragen werden im Allgemeinen nach dem Rechtscharakter dieser Beschwerde beantwortet.

Die herrschende Meinung und die Rechtsprechung gehen davon aus, dass sich die Qualifikation als außerordentliches Rechtsmittel nach den Gerichtsentscheidungen richtet, welche durch das Rechtsmittel angegriffen werden können. Rechtskräftige Urteile können nur mit außerordentlichen Rechtsmitteln angefochten werden, während sich die ordentlichen Rechtsmittel immer gegen Urteile richten, welche noch nicht rechtskräftig sind. Daraus würde sich nun ergeben, dass die als außerordentliche Rechtsmittel aufgezählten Rechtsmittel keinen Suspensiveffekt hätten und das mit Entscheidungen der Strafsenate des Kassationshofs nur rechtskräftige Entscheidungen gemeint sind.

In der Literatur ist diese Definition umstritten und insbesondere die Befristung des Rechtsmittels und der Suspensiveffekt werden auch als Kriterium genannt.16 Unter Verweis auf Tosun kritisiert Talas die Definition des Rechtsmittels als außerordentliches aufgrund der Rechtskraft des Urteils als Zirkelschluss, da die Folge (Rechtsmittel, welches keinen Suspensiveffekt hat) hier das Ergebnis des gleichen Zustandes sei (Urteil, das durch kein Rechtsmittel aufgehoben werden kann). Er legt dagegen die Befristung des Rechtsmittels als Kriterium der Unterscheidung von ordentlichem und außerordentlichem Rechtsmittel zugrunde. Er leitet daraus ab, dass die mit einer Frist von 30 Tagen versehene Beschwerde zuungunsten des Angeklagten ein ordentliches Rechtsmittel sei und deshalb einen Suspensiveffekt habe, obwohl es im Gesetz eine solche Regelung nicht gibt.17 Allerdings gerät er damit in den gleichen Widerspruch. Ein Rechtsmittel, welches die Rechtskraft nicht durchbrechen kann, sollte immer mit einer Frist versehen werden, soweit nicht für die Entscheidung bereits eine Frist vorgesehen ist, in der sie rechtskräftig wird. Es macht also wenig Sinn, die gegenseitigen Folgen als Definition zu wählen und damit die Wirkung zu begründen. Demnach stellt die Rechtskraft des Urteils und die Möglichkeit, diese Rechtskraft mit einem außerordentlichen Rechtsmittel zu durchbrechen, eine Einheit dar, die beinhaltet, dass ein die Rechtskraft eines Urteils durchbrechendes Rechtsmittel, ein außerordentliches Rechtsmittel ist. Allerdings ist die Folge der Nichtbefristung nicht zwingend, sondern es ist nur sinnvoll, wie Tosun schon festgestellt hat, ordentliche Rechtsmittel zu befristen, um den Eintritt der Rechtskraft festzulegen.18 Lassen sich danach die beiden Fragen (welche Entscheidungen und Suspensiveffekt) beantworten?

Aus der Einordnung der Rechtsmittel als außerordentliche ergibt sich, dass der Gesetzgeber bei den anzufechtenden Entscheidungen des Kassationshofs nur rechtskräftige meinte. Da dies auch der Praxis der Rechtsprechung entspricht, hat er vielleicht auch bei der Erweiterung dieser Befugnis für die Generalstaatsanwaltschaft beim Regionalgericht auf eine Veränderung des Art. 308 verzichtet. Aus der Begründung ergibt sich hierzu nichts. Nach ihr soll mit der Erweiterung die Möglichkeit geschaffen werden, gegen rechtskräftige Entscheidungen der Regionalgerichte, gegen die es das Mittel der Revision nicht gibt, ein außerordentliches Rechtsmittel einzulegen, wie es schon bei den Urteilen der Strafsenate des Kassationshofs möglich ist.19 Da Entscheidungen, gegen die eine Revision möglich ist, ausgenommen werden sollten, wurde in Art. 308a aufgenommen, dass die Beschwerde nur gegen rechtskräftige Urteile zulässig ist.

Damit bleibt die Frage, welche Entscheidungen des Kassationshofs rechtskräftig sind. Die Rechtsprechung geht davon aus, dass eine Beschwerde am Kassationshof nur gegen rechtskräftige Entscheidungen eingelegt werden darf und alle Entscheidungen des Kassationshofs über die eingelegte Revision, die das Revisionsverfahren über das jeweilige angefochtene Urteil abschließen, als rechtskräftige Entscheidung anzusehen sind. Unabhängig davon, ob der Kassationshof im Revisionsverfahren die Revision verworfen hat und das Urteil der unteren Instanz bestätigt hat oder ob er das Urteil aufgehoben hat und an ein Gericht der unteren Instanz zurückverwiesen hat, können alle diese Entscheidungen mit der außerordentlichen Beschwerde angefochten werden.20

Bei einer Aufhebung des Urteils wird die Sache jedoch in den meisten Fällen zurückverwiesen und sodann neu durch die Tatsacheninstanz entschieden. Zudem kann im türkischen Recht das untere Gericht auf seiner Entscheidung beharren.21 Gegen das Beharrensurteil kann die Staatsanwaltschaft in die Revision zum Großen Strafsenat des Kassationshofs gehen, dessen Entscheidung dann bindend ist. In der Lehre werden die Urteilsaufhebungen der Strafsenate deshalb nicht als rechtskräftige Entscheidung betrachtet. Ausgehend von der Unterscheidung des ordentlichen von dem außerordentlichen Rechtsweg nach der Rechtskraft der angefochtenen Entscheidung steht damit – entgegen der Rechtsprechung des Kassationshofs - das Rechtsmittel der außerordentlichen Berufung nicht mehr für Aufhebungsentscheidungen des Kassationshofs zur Verfügung. Nach dieser Ansicht können nur die Verwerfungen der Revision als rechtskräftige Urteile durch die außerordentliche Beschwerde angefochten werden.22 Diese Argumentation konnte sich jedoch nicht gegen die Rechtsprechung durchsetzen.

Für die Annahme oder Ablehnung eines Suspensiveffekt der außerordentlichen Beschwerde hat dies keine Bedeutung. Soweit Talas davon ausgeht, dass die Befristung der außerordentlichen Beschwerde zuungunsten des Angeklagten zwingend zum Suspensiveffekt dieses Rechtsmittels führt, übersieht er, dass das Gesetz auch für manche ordentlichen Rechtsmittel keinen Suspensiveffekt vorsieht (Beschwerde). Der Suspensiveffekt ist für die einzelnen Rechtsmittel geregelt und ergibt er sich nicht automatisch aus dem Vorhandensein einer Frist, die für die Einlegung des Rechtsmittels vorgesehen ist. Bezüglich der außerordentlichen Beschwerde gibt es eine solche Regelung nicht. Vertretbar wäre hier, von einer Anwendung der Vorschriften der Revision auf die außerordentliche Beschwerde auszugehen. Aufgrund der unterschiedlichen Gestaltung der Rechtsmittel ist dies allerdings fraglich. So bleibt hier nur die Möglichkeit, dass der Kassationshof die Vollstreckung der Entscheidung bis zur Entscheidung über die Beschwerde aussetzt.23