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Gedanken zu einer Gesamtreform des Strafverfahrens in Deutschland

Karl Heinz GÖSSEL

I. Reformbedarf

Die geltende Strafprozessordnung wurde am 1.2.1877 verkündet und sieht damit ihrem 140 sten Geburtstag entgegen. Wenn auch durch etwa 200 Gesetze vielfach verändert, hat sie doch ungeachtet der gewaltigen Umwälzungen seit der Zeit ihrer Geburt eine erstaunliche Lebenskraft bewiesen. Ob sie damit aber den Anforderungen gewachsen ist, die zu Beginn des dritten Jahrtausends an ein Gesetzgebungswerk zu stellen sind, ist eine andere Frage, die nach meiner Überzeugung guten Gewissens nicht mehr bejaht werden kann. Die nach zwei unmenschlichen Weltkriegen mit gewaltigen gesellschaftlichen Umwälzungen einhergehende Entwicklung einer maßgeblich von Adel und Militär beeinflussten ständischen Gesellschafts- und Staatsordnung zu der seitdem aufgebauten und nunmehr bestehenden demokratischen Ordnung hat neue rechtsstaatliche Formen der Organisation menschlichen Zusammenlebens entstehen lassen, in dem alle Individuen in gleicher Weise unabhängig von Geschlecht, Herkunft oder Standeszugehörigkeit originär mit der Geburt entstandene Rechte besitzen, unabhängig von staatlicher Zuteilung: Zu Recht wird Hegels Forderung nicht mehr akzeptiert, höchste Pflicht der Einzelnen sei es, Mitglieder des Staates zu sein, der in der Person eines Monarchen als Verwirklichung der sittlichen Idee als das an und für sich Vernünftige bestehe1 allein schon diese Entwicklung hat die gesellschaftliche wie auch staatliche Organisation in bisher ungeahnt nachhaltiger Weise strukturiert und geformt, wie zudem auch die teilweise unvorstellbaren technischen Entwicklungen seit dieser Zeit, beginnend mit der Erfindung des Kraftfahrzeugs im Jahre 1875 bis zu der rasant fortschreitenden Informationstechnik zu derzeit noch unbekannten Zielen.

Dass ein Gesetz aus dem Jahre 1877 dem trotz aller auch erheblicher Änderungen nicht mehr gerecht werden kann, ist offensichtlich und hat sich überdies auch in zahlreichen, nicht immer erfolgreichen Reformversuchen manifestiert,2 die indessen die unvermeidbar dringende Anpassung an heutige Notwendigkeiten kaum jemals umfassend durchgeführt haben. Selbst die Einfügung des Achten Buches über die Verwendung von strafverfahrensrechtlichen Informationen unter Berücksichtigung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung in die StPO durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz v. 28.10.1994 und das StVÄG 1999 v. 2.8.2000 kann deshalb nicht genügen: Gesetzliche Neuregelungen nur einzelner Bereiche des Strafverfahrensrechts, so gewichtig sie auch sein mögen, können nicht ausreichen, solange eine Gesamtreform nach wie vor aussteht. Dazu allerdings scheinen nach wie vor weder Kraft noch Wille vorhanden zu sein. Auch die im Juli 2014 vom Bundesministerium der Justiz und Verbraucherschutz eingesetzte Expertenkommission hatte nur den beschränkten Auftrag, Vorschläge dazu zu erarbeiten, „das allgemeine Strafverfahren und das Jugendstrafverfahren unter Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze effektiver und praxistauglicher“ auszugestalten.3 Mit solch beschränktem Auftrag wird jene verhängnisvolle Entwicklung weitergeführt, die, etwa unter Beeinträchtigung des vom Schuldprinzip geforderten wesentlichen Verfahrensprinzips der Wahrheitsermittlung durch die Zulassung von „Abreden“4 , vorrangig eine möglichst Zeit und Kosten sparende Gestaltung der Strafverfahren zum Ziele hat, wie sich zudem darin zeigt, dass die Expertenkommission sich dabei ergebende Fragen „aufgrund ihres zeitlich beschränkten Auftrags“5 „aus Zeitgründen“ nicht abschließend prüfen oder klären6 oder sonst nur zur weiteren Prüfung empfehlen7 konnte und damit wesentliche Problemkreise etwa der Beweisverwertungsverbote, der Beweisaufnahme, des Tat- oder Schuldinterlokuts nur unzulänglich behandeln konnte8 . Auch wenn dabei einige bedenkenswerte Empfehlungen ausgesprochen werden konnten, muss dennoch gefragt werden, warum solche beschränkten Aufträge, dazu noch unter zeitlichem Druck, überhaupt erteilt werden: Dem unverzichtbaren Anliegen eines rechtsstaatlichen Strafverfahrensrechts auf der Höhe unserer Zeit nicht nur unter den Gesichtspunkten der ökonomischen Effizienz und der Praxistauglichkeit wird so ein Bärendienst erwiesen.

Auf der Suche nach den Gründen für diese ungenügenden Reformversuche kommt zunächst schon die Beschränkung in den Blick, die auf dem Koalitionsvertrag der die Bundesregierung stellenden politischen Parteien beruht: Wem es nur um höhere Effizienz und höhere Praxistauglichkeit eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens geht, der kann sich der Bedeutung einer Strafverfahrensordnung für die staatliche Rechtsordnung nicht bewusst sein und auch nicht werden. Alles staatliche Handeln sollte durch jene Eigenschaft motiviert sein, die schon Montesquieu gefordert und als Tugend bezeichnet hat: „Tugend ist in einer Republik eine sehr einfache Sache: sie ist eben Liebe zur Republik“9 , „zur Demokratie“, die „Liebe zur Gleichheit“, in der „jedermann das gleiche Wohlergehen und die gleichen Vorteile10 finden soll“, so dass die Bürger „in der unablässigen Entscheidung für das öffentliche Wohl“ ihre Wünsche dem Gemeinwohl nachordnen11 . Diese Tugend haben jedenfalls diejenigen vermissen lassen, die der Expertenkommission ihren Auftrag erteilt haben: Die ständige Entscheidung für das öffentliche Wohl kann sich auch bei rechtsstaatlicher Verfahrensweise unmöglich auf Effizienz und Praxistauglichkeit beschränken: Diese Gegenstände können nur berücksichtigt werden, soweit sie dem öffentlichen Wohle dienen - und damit Einfachheit und Bequemlichkeit der Praxis wie die Effizienz des Verfahrens dem Gemeinwohl nachordnen. Davon war im Auftrag an die Kommission nicht die Rede und überdies bleibt zu bezweifeln, ob auch alle Mitglieder dieses Gremiums sich bei der Erfüllung ihres Auftrages vorrangig dem Gemeinwohl verpflichtet fühlten oder nicht doch den Interessen der Gruppe, der sie angehörten, den Vorrang gaben: An Effizienz und Praxistauglichkeit orientierte partielle Reformen erscheinen selbst dann verfehlt, wenn dabei rechtsstaatliche Grundsätze sogar ausdrücklich gewahrt bleiben12 sollen.

II. Die Beweisverbotsproblematik

Die soeben erwähnte Reformkommission hat insbesondere die hier wesentliche Frage nach den Merkmalen, die ein Beweisverbot zu einem Beweisverwertungsverbot erstarken lassen, nicht einmal erkannt und konnte so auch nicht bedenken, ob es weiterhin sinnvoll erscheint, zwischen Erhebungs- und Verwertungserboten zu unterscheiden und deshalb auch zwischen selbstständigen und unselbstständigen Verwertungsverboten: führen doch genau diese Unterscheidungen dazu, die Gerichte für verpflichtet zu halten, in der Hauptverhandlung aufgrund der Amtsermittlungsmaxime einen Beweis trotz Verstoßes gegen ein auch gesetzliches Erhebungsverbot jedenfalls dann zu erheben, wenn diesem Erhebungsverbot kein Verwertungsverbot zugeordnet wird13 . So kann auch nicht bedacht werden, ob anstelle der genannten Unterscheidungen zwischen der Selbstständigkeit von Verwertungsverboten und auch schon der zwischen Erhebungs- und Verwertungsverboten nicht doch und besser allein auf einen etwaigen Normverstoß bei einer Beweiserhebung abzustellen sei und nur noch auf dessen Bedeutung für das Vorliegen eines Verwertungsverbotes, Probleme, die auch gesetzlich gelöst werden könnten wie z.B. auch durch die Normierung besonders schwerwiegender Normverstöße bei der Beweiserhebung als absolute Revisionsgründe.

Es kann nur bedauert werden, dass sich die Expertenkommission den Mühen solcher Überlegungen entzogen hat, die doch im Interesse gerade einer Effektivitätssteigerung des Verfahrens liegen: könnten doch so die erheblichen Schwierigkeiten bei der Beurteilung von Verwertungsverboten entscheidend vermindert und so vermieden werden, dass u.U. erst nach jahrelanger Verfahrensdauer den Tatgerichten von der höchstrichterlichen Rechtsprechung bescheinigt wird, sie hätten ein Verwertungsverbot zu Unrecht verneint oder bejaht, so dass nach der Aufhebung der je angegriffenen Entscheidungen das Verfahren weiter geführt werden müsste.

III. Beweisaufnahme

Die in einem Alternativentwurf deutscher, österreichischer und schweizerischer Strafrechtslehrer (AE-Beweisaufnahme)14 vorgeschlagene Zurückdrängung des Unmittelbarkeitsprinzips bei der Vernehmung von Beweispersonen zugunsten anderer „Möglichkeiten der Beweiserhebung“ wie z.B. die „Vorführung einer Ton-Bild-Aufnahme“ früherer Vernehmungen durch die Polizei15 wird von der Expertenkommission zur Recht nicht befürwortet16 : Wer jemals Beweispersonen vernommen hat, wird allein schon wegen der fehlenden Möglichkeit von Rückfragen diesem praxisfernen Vorschlag nicht zustimmen können. Entgegen der im AE-Beweisaufnahme vertretenen Auffassung ist die unmittelbare Vernehmung der audiovisuellen Vernehmung in der Tat überlegen, die indessen in bestimmten Fällen der Nutzung dieses Beweismittels, das immerhin dem herkömmlichen schriftlichen Protokoll überlegen17 ist, dann nicht entgegenstehen kann, wenn deren Unterlegenheit gegenüber der unmittelbaren Vernehmung bedacht und gewürdigt wird: so etwa schon in den Fällen, in denen eine erneute Vernehmung der Beweisperson in der Hauptverhandlung wegen Vernehmungsunfähigkeit oder Todes der betroffenen Person nicht mehr möglich ist, ferner z.B. aber auch dann, wenn die erneute Vernehmung des Opfers einer Straftat für diese mit unzumutbaren Härten verbunden ist. Zu Recht hat die Kommission deshalb die inzwischen verwirklichte Einführung audiovisueller Dokumentationen von Vernehmungen in amtsgerichtlichen Verfahren (Empfehlung D 13.1) ebenso vorgeschlagen wie Möglichkeiten zur Vorführung audiovisueller Aufzeichnungen richterlicher Beschuldigten- und Zeugenvernehmungen18 .

Allerdings hätte es von hier aus doch nahegelegen, auch darauf einzugehen, dass die StPO des Jahres 1877 auch andere Mittel der Beweisführung nicht kannte, wie z.B. den Fingerabdruck, der sich ebenfalls unter die damals bekannten Beweismittel mit je eigenen Regeln für die Einführung in die Hauptverhandlung nicht einordnen lässt und erst mit Hilfe anderer Beweismittel zum Gegenstand der Beweisaufnahme werden kann: durch Zeugenbeweis die Feststellung und Abnahme der Fingerabdrücke, durch Augenschein deren sinnliche Wahrnehmung und schließlich durch Sachverständigenbeweis deren Zuordnung zu bestimmten Personen, u.U. zusätzlich durch Urkundenbeweis nach § 256 Abs. 1 StPO. Ähnliche Probleme stellen sich z.B. beim genetischen Fingerabdruck und anderen Sachbeweisen, die es nahelegen, schon aus Gründen größerer Praktikabilität das derzeitige System der Beweismittel durch zeitgemäße Regeln über die Beweisführung etwa durch die Entwicklung und Einführung eines eigenständigen neuen Beweismittels des Sachbeweises zu ersetzen - die Expertenkommission lässt diese Problematik leider gänzlich außer Acht.